In Richtung einer Genealogie der Gegenaufklärung
Von Rousseau und Hamann bis zur Postmodernität
1. Ernst Cassirer und die Gegen-Aufklärung seiner Zeit
1932 erscheint in Deutschland das berühmte Buch Philosophie der Aufklärung des neo-kantianischen Philosophen Ernst Cassirer. In seinem Vorwort zeigt Cassirer auf, dass es in Deutschland damals viele kritiklos hingenommene Anschuldigungen gegen das Jahrhundert der Aufklärung gab: „die Rede von der »flachen Aufklärung« [schrieb Cassirer] ist noch immer im Schwange“. Im Gegensatz dazu versucht er in seinem Buch zu zeigen, dass viele der zu jener Zeit dominanten romantischen „Vorurteile“ gegen die Epoche der Aufklärung nicht zutreffend waren. Der Philosoph der Marburger Schule erklärte, „ein wesentliches Ziel der vorliegenden Darstellung [wäre erreicht], wenn es ihr gelänge, diese Rede endlich zum Schweigen zu bringen“ (2008: 14). Für Cassirer war die Epoche der Aufklärung keine „unvollendete Epoche“, wie für Hegel, sondern eine Epoche, die ihre „eigene Dignität" hatte und deren „Denkbewegung“ in der kantianischen Philosophie kulminierte. Wie Ferrari zeigt, ist Philosophie der Aufklärung die Krönung von Cassirers Verteidigung Kants als Höhepunkt der Aufklärung: ein Standpunkt, der sich 1929 im schweizerischen Davos mit Cassirers legendärer Disputation mit Heidegger zu entwickeln begonnen hatte. Obwohl diese Disputation auf unterschiedliche Weise interpretiert werden kann, ist es unumstritten, dass sie den kulminierenden Konflikt zwischen zwei philosophischen Traditionen darstellte, welche sich während des neunzehnten Jahrhunderts in zunehmend widersprüchlichen Richtungen entwickelte. Auf der einen Seite die Tradition der Aufklärung (Cassirer), deren tiefen Wurzeln in der Philosophie Descartes, Kants, Lessings, Diderots, usw. nachgespürt werden kann und welche die Rolle der Vernunft in der Erkenntnis der Welt und Gesellschaft betonte. Und auf der anderen Seite die Tradition der Gegen-Aufklärung (Heidegger), die sich mit Pascal, Burke, Hamann, Herder, Müller, usw. eröffnete und die der Modernität und ihrem rationalistischen Projekt feindlich gegenüberstand.
Cassirer glaubte, dass Heideggers „zu kierkegaardische“ Interpretation Kants, eine „hermeneutische Gewalt“ an dessen Philosophie übe. Am allermeisten fürchtete Cassirer, welche politischen Konsequenzen diese Ansicht Heideggers und die „globale intellektuelle Atmosphäre“, welche solche Interpretation erlaubte, haben werde. Besonders die „Destruktion“ der ganzen westlichen Metaphysik und ihrer Gründung in logos und Vernunft, die Heidegger –aber nicht nur er- mit seiner „fundamentalen Ontologie“ durchführen wollte, schien Cassirer sehr gefährlich zu sein, moralisch und politisch gesehen. Mehr noch: Cassirer beklagte sich, dass die systematische „Verformung“ der Aufklärung, „die Geltung fundamentaler Einsichten der Aufklärungsepoche –über das Wesen des Menschen, den Sinn der Wissenschaften, den Gang der Geschichte oder die Idee unveräußerlicher, natürlicher Rechtsprinzipien– die politischen Tendenzen der Gegenwart schadlos überstehen werde.“ (Galtung, 2007, XII) In diesem Sinne ist Foucaults Bemerkung richtig: Philosophie der Aufklärung war eigentlich ein „Manifesto“, insofern als Cassirer in ihr in Erinnerung rufen wollte, dass die Tradition der Menschenrechte, der Republik und der Demokratie zu Deutschland gehörten. Und Cassirer zufolge repräsentierte Kant tatsächlich dieses andere (nicht faschistische) Deutschland.
2. Die „Dämonologie“ der Aufklärung in der zeitgenössischen Philosophie
Ich führe den Fall Cassirers nicht umsonst an, da man in mehr als einem Sinne eine Parallele zeichen könnte, zwischen dem „intellektuellen Klima“ radikaler Feindseligkeit der Aufklarung gegenüber, mit welcher sich der Autor zu Beginn des XX Jahrhunderts konfrontiert sah, und dem anti-aufklärerischen Klima, das momentan die „Akademien“ beherrscht. Tatsächlich haben sich seit dem 2. Weltkrieg bis zum heutigen Tage die Artikel, Reden und Bücher in stark antiaufklärerischem Ton vervielfacht. Wie James Schmidt in What Enlightenment Project? (2000) und Dennis Rasmussen in Contemporary Political Theory as an Anti-Enlightenment Project (2007) richtig ausführen, stellt die Behauptung, dass die (aufgeklärte Vernunft) Trägerin aller autoritären und/oder totalitären Laster sei, explizit oder implizit die Basis aller zeitgenössischen politischen Philosophieschulen dar.
Tatsächlich unterscheiden sich die traditionellen politischen Rivalen überraschenderweise nicht in ihrer Verurteilung der Aufklärung voneinander: Christen, Strukturalisten, Pos-Strukturalisten, Postmodernisten, Feministinnen, Neuheiden, Kommunitaristen, Liberale, Multikulturalisten, Neokonservative, die extreme Rechte und Linke stimmen alle darin überein, dass mit dem „Erbe der Aufklärung gebrochen werden müsse“. Ihrer Ansicht zufolge ist die Aufklärung für praktisch alle Übel der modernen Welt verantwortlich.
Da es unmöglich ist, eine komplette Liste dieser Übel aufzuführen, nenne ich nur einige: sie reichen von „Umweltzerstörung“ (William Ophul), „Imperialismus“ (Daniel Carey und Lynn Festa) „Individualismus“ (Michael Sander, Charles Tylor und James Q. Wilson) „Machismus und Phallogozentrismus“ (Jane Flax und Susan Hekman), „Rassismus“ (Charles W. Mills, Louis Sala-Molins, etc.), bis zum „Eurozentrismus“ oder „Logozentrismus“ (Kanth, Derrida, etc.) und „Nihilismus“ (Alsadir MacIntyre und Gray).
Beachtenswert ist auch, dass einander diametral entgegengesetzte Anschuldigungen gegen die Aufklärung erhoben werden: einige werfen ihr vor, im Wesentlichen fundamentalistisch zu sein (Berlin, Rorty und Foucault), andere, sie sei positivistisch oder instrumentell (Gray, Adorno und Horkheimer); manche sehen in ihr einen intoleranten Universalismus oder Hyperrationalismus (Berlin, Gray, Deleuze und Kanth), und wieder andere einen unerträglichen Relativismus (Wilson); einige beschuldigen sie, dass sie nur eine Weiterführung des Ancien Regime (Toqueville und Becker) oder des westlichen Denkens sei (wieder Berlin), und wiederum andere, dass sie abrupt mit der Tradition gebrochen habe (Voglein, Arendt, Kanth, etc.). Auf diese Weise wird auch argumentiert, sie habe die Welt "entzaubert" (Weber, Ludwig Klages, etc.), und die Menschen mithin in die Banalität, die Sinnlosigkeit und Entfremdung (Johannes Paul II, Leo Strauss, Gray, etc.) getrieben. Wiederum andere Kritiker führen an, die Aufklärung sei im Gegenteil selbst eine Religion, eine Metaerzählung (Schmitt, Lyotard, Adorno und Horkheimer).
John Patrick Diggins stellt in Kritik der Aufklärung (2007) fest, dass es in Bezug auf die Kritik zwei "Schulen" gebe: die Englisch-Amerikanische und die Deutsche. Die erste zeige das 18. Jahrhundert als eine "einfältige" und "unschuldige" Bewegung, welche an die Macht der "Abstraktion" und der "Vernunft" glaubte und vergeblich die Religion durch die Wissenschaft ersetzen wollte, um hiermit die Welt "wieder zu verzaubern". Für diese Version gebe es keinen großen "Bruch" zwischen Aufklärung und Vormodernität: die Aufklärung sei eine reine Verlängerung des Christentums, nur trete sie in neuen Kleidern auf und neige dazu, große Katastrophen hervorzurufen. Diese Meinung vertreten Edmund Burke, Alexis de Tocqueville, Carl Becker und Isaiah Berlin.
Die deutsche Version hingegen beschreibt die Aufklärung als "besessen von der technischen Eroberung der Natur", als ein Programm mit dem Ziel, die Welt zu "entzaubern" und zu "bürokratisieren" und auf diese Weise die Menschen zu "entmenschlichen und zu beherrschen." (Jumonville 2007: 51). Dieser Perspektive entsprechend wäre die Aufklärung nicht einfältig-unschuldig, sondern im Gegenteil "unerbittlich“, da sie zum "Machtwillen" neige, "Zerstörungspotential" besitze und die "Realität einem System unterwerfen" wolle.
Diese Auffassung wurde anfänglich von den (Vor)Romantikern wie unter anderem Hamann, Herder, Novalis, Schlegel und Hoffman usw. gefördert, doch sie gelangte bis zu Arendt und Weber, zur Frankfurter Schule, Heidegger, Schmitt und Levinas, wo sie sich sogar radikalisierte, zu den Postmodernen Franzosen und teilweise bis zur aktuellen Amerikanischen Linken. Doch es ist im Werk John Grays, dem jetzigen Professor der LSE, wo sich die "zwei Schulen" und alle in den letzten zwei Jahrhunderten gegen die Aufklärung gesammelten Vorurteile vereinen. So lesen wir in Enlightenment Wake (1995):
The legacy of the Enlightenment project—which is also the legacy of Westernization—is a world ruled by calculation and willfulness which is humanly unintelligible and destructively purposeless […] The most fundamental Western commitment, the humanist conception of humankind as a privileged site of truth […] which re-emerges in secular and naturalistic form in the Enlightenment project of human self-emancipation through the growth of knowledge, must be given up.
In diesem Absatz, welcher meisterhaft die Kritiken der Romantiker, der englischen und deutschen Schule sowie der französischen Anti-Humanisten zusammenfasst, ist der Höhepunkt dessen erreicht, was sich in den letzten Jahren - um es mit Knud Haakonssen zu sagen - in eine wahre „Dämonologie" der Aufklärung (Schmidt, 2000: 735) gewandelt hat und was eine neue - und gefährliche - historische Entstellung der aufklärerischen Philosophie in sich birgt.
3. Der Ursprung der weit verbreiteten Kritik der Aufklärung
Bei genauerem Hinsehen fällt ins Auge, dass es vor allem Isaiah Berlins, Adornos und Horkheimers, Heideggers - und in geringerem Maße Hannah Arendts und Emmanuel Levinas Diagnosen nach dem Zweiten Weltkrieg waren, welche die Basis legten für diese Generalisierung einer Totalen Kritik am Projekt der Aufklärung. Tatsächlich sind die zeitgenössischen Feinde der Aufklärung Schüler dieser Philosophen: Berlin beeinflusste die englischsprachige Linke (Gray war sein Schüler) und Adorno und Horkheimer und Heidegger übten ihren Einfluss auf die französische Postmodernen.
Obwohl Berlin zugibt, dass die "Epoche der Aufklärung eine der besten und hoffnungsvollsten Episoden in der Geschichte der Menschheit sei" (Berlin, 2000: 52), ist es seine erklärte Absicht, diese Epoche einer genauesten Prüfung zu unterziehen und sie zu revidieren, indem er ihr ihren monistischen Rationalismus, ihre Neigung zur Abstraktion, ihren "einfältigen" Glauben an den "Fortschritt" und ihre "wissenschaftliche" Vision des Lebens und der Gesellschaft im allgemeinen zum Vorwurf macht. Tatsächlich sagt Berlin den Aufklärern, vor allem Rousseau, Condorcet, d‘Holbach und Helvetius nach, sie habe dem Kommunismus den Weg bereitet und ihm Ideen zugeführt, welche später Stalin nutzte - und welche, Berlins Meinung zufolge, bereits dem Terreur Robespierres gedient hatten - und deshalb sei die Aufklärung auch schuld an den Auswüchsen und blutigen Exzessen, welche im Namen des "Fortschritts", der "Wissenschaft" und der "Utopie" während der Russischen Revolution verübt wurden, und welche Berlin am eigenen Leibe erlebt.
Etwas Ähnliches geschieht mit Horkheimer und Adorno. Zwar versicherten die Autoren der Frankfurter Schule, dass ihre Dialektik der Aufklärung ausdrücklich die Absicht habe, die "Aufklärung zu retten" und "Vernunft in die Welt zu bringen", wie Horkheimer sagte, wofür es notwendig sei, ihre "Dialektik" zu bemerken, doch gehen die Autoren dann zu einer vernichtenden Kritik der Aufklärung über. In der Dialektik der Aufklärung finden sich Behauptungen, die so kategorisch wie typisch sind für die oben erwähnte deutsche Schule. Den Autoren zufolge ist "Die Aufklärung so totalitär wie nur irgendein System", da sie besessen sei vom "Identitätsprinzip", welches den "Unterschied" negiert und, sie […] verhalte sich zu den Dingen wie der Diktator zu den Menschen“ usw. Für Adorno und Horkheimer entwickelt die Aufklärung in ihrem Bestreben, die Natur zu unterwerfen, anhand eines theoretischen Arsenals, das auf der „Abstraktion“ und „totalen Systematisierung“ basiert, wissenschaftliche und technologische Macht. Statt nun aber mit dieser technischen und wissenschaftlichen Entwicklung die moralische Perfektion des Menschen voranzutreiben (Condorcet und Turgot), transformiere sich diese teleologische-normative Vernunft des "kategorischen Imperativs" in eine instrumentelle Vernunft, und hiermit werde die Menschheit zu einem Manipulationsobjekt. In nichts anderem aber bestehe der Faschismus und Nazismus.
Was Heideggers Kritik an der Modernität angeht - von den dreien zweifellos die beißendste und einflussreichste - so ist seiner Vision zufolge, welche von den Postmodernen aufgegriffen und neu bearbeitet wird, die Modernität (oder die “technische Zivilisation”) schlichtweg in ihrer Gänze zu verurteilen: es gibt keinerlei Absicht, sie zu retten, sondern die völlige Resignation, dass: "Nur noch ein Gott uns retten kann." Seiner Philosophie zufolge - vor allem nach der berühmten „Kehre“ um 1936 herum - hat das Kartesianische Cogito in seinem Bestreben, die Wirklichkeit objektiv festzuhalten, ein Logos vorauszusetzen und eine mathematisierende Konzeption des Seins zu verwirklichen, zusammen mit dem "rechnenden Denken" als dominierendem Faktor, die unbezähmbare Technikherrschaft verursacht. Auf diese Weise seien der Faschismus, der Kommunismus, der Nationalsozialismus (welchen Heidegger in den 40-er Jahren seiner Liste von "modernen Verfehlungen" hinzufügte, entstanden; aber auch der nordamerikanische Kapitalismus und die liberale Demokratie, welche er als "despotisch" bezeichnet, seien nur einige Ausdrücke der Modernität, welche schließlich die Erde zerstören und den Menschen als ein "Ding unter anderen Dingen" ansieht.
4. Die Probleme dieser Kritik an der Aufklärung
Die von diesen Autoren geteilte kritische Diagnose der Aufklärung wirft zwei Probleme auf. Erstens ist zu betonen, dass ihre Vision der Aufklärung oder der Modernität paradoxerweise in jenem "intellektuellen Klima" entstand, welches wie oben gesehen von Cassirer dafür kritisiert wurde, dass es viele „romantische Vorurteile“ gegen die Aufklärung wiederholte, und welches Cassirer überdies als das für das deutsche Debakel geeignete Klima betrachtete.
Dieses Klima kann bezeichnet werden als der „deutsche Reflex gegen die Moderne“, eine direkte Erbschaft der Romantik, welcher zu einem Charakteristikum eines Teils der Philosophie würde und zu Beginn des 20. Jahrhunderts dominieren würde. Der Reflex ist historisch bedingt: er erwuchs aus dem Widerstand gegen die von Friedrich autoritär eingeführten aufgeklärten Reformen in Preußen; aus dem Eindruck, den die Schreckensherrschaft Robespierres hinterließ, dem Scheitern der demokratischen Reformen 1848 und dem Sieg gegen Frankreich 1871, welcher dem „konservativen deutschen Modell“ gegenüber Frankreichs „dekadentem und bourgeoisen Rationalismus“ auf beiden Seiten des Rheins große Stärke verlieh, und der Entstehung der „Geistesgeschichte“, einer nationalistischen intellektuellen Bewegung, welche die Aufklärung als „französisch“, „mechanistisch“, „oberflächlich“, „vereinheitlichend“, „gegen das Leben gewandt“ darstellt und sie in Gegensatz bringt zu „deutschem Gefühl, Geschichtlichkeit und Tiefe“. Zweitens setzen diese Diagnosen in zweifelhafter Weise voraus, dass die Aufklärung oder die Modernität eine "Linie" sei, welche sich im Laufe der Zeit entwickelt und schließlich "ihren Höhenpunkt" in den totalitären Katastrophen des 20. Jahrhunderts gefunden habe.
Wenn wir jedoch die Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts überdenken, merken wir sogleich, dass es sich nicht um eine "Linie" handelt, sondern vielmehr um eine "Dialektik" zwischen zwei sehr unterschiedlichen Traditionen: der aufgeklärten und der anti-aufklärerischen. Akzeptieren wir diese Hypothese, dann wird das Szenario wesentlich komplexer, weil das, was gemeinhin als unvermeidliches Ergebnis der Modernität angesehen wurde (und auf dieser Interpretation baut in der Tat die Philosophie der Postmoderne auf), in Wirklichkeit aber die Konsequenz eben ihrer Antithese, der Anti-Moderne ist. Hiermit geht man nicht nur das Risiko ein, der Aufklärung dasjenige zuzuschreiben, was in Wirklichkeit der Gegen-Aufklärung geschuldet ist, wie es meiner Meinung nach schon seit der Schreckensherrschaft Robespierres geschehen ist, sondern es wird auch, auf gefährliche Art, jegliche Kritik an eben derjenigen Tradition unterlassen, welche ihren Anteil hatte an den Debakeln des 20. Jahrhunderts.1
5. Die gegenmoderne Tradition
Die Aufklärung war ein Geschehen von allergrößter Bedeutung in der Universalgeschichte, und die Französische Revolution (vor Robespierre) ihre konkreteste Verwirklichung. Aber ein Geschehnis bringt - bei Anwendung von Badious' Ontologie - nicht nur ein sujet fidèle hervor, sondern auch ein sujet obscur, will sagen: das Gegenstück. Schreibt man eine Geschichte der philosophischen Ursprünge der Gegen-Aufklärung, so trifft man auf eine Gruppe von Denkern, deren frühe - bisweilen heftige - Reaktion auf die Aufklärung die großen Linien einleiten wird, welchen sämtliche Opponenten, ungeachtet ihrer unterschiedlichen Varianten, bis zum heutigen Tag folgen. Zu den Gegnern zählen, aus unterschiedlichen Motiven: Rousseau, Hamann, Burke, de Maistre und Herder. Ich halte Rousseau und Hamann für die bedeutendsten, da ihre Philosophie in nuce praktisch alle Vorwürfe enthält, welche der Aufklärung jemals gemacht worden sind.
Rousseau: Sparta gegen Athen
Obgleich Rousseau traditionell als Aufklärer eingeschätzt wurde, ist es zurzeit Konsens unter den Spezialisten, dass seine Philosophie in Wahrheit ein direkter Angriff gegen die Aufklärung war. Tatsächlich wurden - wie Garrard in Rousseaus Counter-Enlightenment zeigt - Rousseaus Schriften bis um 1770 herum von den Feinden der Philosophes benutzt. Dieses Bild von Rousseau als geistesverwandt mit den Anti-Philosophes -sollte sich im Lauf der Französischen Revolution ändern, indem Rousseau von den Jakobinern als einer der "Väter der Revolution" rehabilitiert wurde. Von da an würden die Kritiker der Revolution und der Aufklärung: Konservative, Reaktionäre, Romantiker etc. diagnostizieren, dass die Revolution von "la faute à Rousseau (la faute a Voltaire)" worden sei.
Im Licht der neuesten Literatur wird jedoch klar, dass Rousseau sich tatsächlich vehement gegen die Prinzipien der Aufklarung gestellt hat. Er stellte fest, so wie das Christentum für die politische Gemeinschaft und die "Tugend" schädlich gewesen sei wegen seines Universalismus, welcher die Liebe zur Nation und zum weltlichen Staat ersetzt habe durch die Liebe zu einem transzendenten Gott, so würde auch die Aufklärung zur Dekadenz führen. In Émile (1763) und Rêveries (1782) wirft Rousseau der Aufklärung vor, sie imitiere in ihrem Kampf gegen die Kirche deren despotische politische Struktur (Melzer, 1996: 347). Rousseau zufolge versammelten sich die Aufklärer auch in einem politischen Gremium (la République des Lettres), verteidigten ein Dogma über die Natur (Materialismus), schrieben ein Buch mit universeller Verbreitung (Enzyklopädie) und versuchten, die öffentliche Meinung zu prägen (Melzer 1996: 348). Er stellte sich sogar eine Inquisistion von seiten der Aufklärer vor. Er argumentierte, dass der Rationalismus der Aufklärung auch dazu benutzt werde, Ungleichheit zu erzeugen und Korruption zu verewigen. Mit ihrem Atheismus, Skeptizismus und Materialismus - einer „unmoralischen“ Kombination nach Rousseau - setze die Aufklärung die „Zivilgesellschaft“ an Stelle von „Himmelreich“ und erzeuge so das gleiche Problem der Ungleichheit und Abhängigkeit. Beide würden nun aber sprießen aufgrund des Interesses der Bourgeoisie an Handel und Ansehen So eröffnet Rousseau die Kritik an der Vernunft als Repräsentantin von "Industrialisierung" und "bürgerlicher Gesellschaft", indem er sie mit der Aufklärung verknüpft, eine Idee, die man später in Marx, Adorno und Horkheimer (aber auch Nietzsche, Heidegger und Levinas) finden kann.
Im Gegensatz zu den Aufklärern, welche die positive Religion zugunsten eines Deismus und Atheismus überwinden wollen, argumentiert Rousseau, dass diese immer zurückkehren werde, da der Atheismus „lasterhaft“ und ein „Luxus der Reichen“ sei (er denkt hier an d’Holbach). In seiner Idealen Republik ist Gott unabkömmlich, da seiner Meinung nach die gewöhnlichen Leute die Hoffnung auf ein ewiges Leben benötigen, um dieses Leben zu ertragen. Wenn Voltaire glaubte, dass eine vernünftige Religion dabei helfen könnte, illegales Verhalten zu verhindern, so sollte Rousseau zufolge die Religion lehren, die Gesetze des Staates zu lieben; und überdies, argumentiert er, wenn seine Bürger glaubten, dass sie ein besseres Leben im Jenseits erwarte, so könne der Staat ihr diesseitiges Leben für sich beanspruchen, z.B. im Krieg. Sein Staatsideal sind die vollkommen homogenen, vormodernen Staaten wie Sparta, wo man eine perfekte Kombination von - durch die Religion gewährleisteten - sozialem Zusammenhalt, Gleichheit und Patriotismus finde. Im Gegensatz zum Preußen von Friedrich dem Großen und Voltaire, seien diese Gesellschaften von "großen Gesetzgebern" wie Lykurg oder Moses geführt worden, welche über irrationale Kräfte verfügten.
Andererseits, so Rousseau, sei auch der säkulare Rationalismus nicht in der Lage, ein Fundament für den Staat zu schaffen: die privaten Interessen haben wenig miteinander gemeinsam, weshalb es unmöglich ist, in ihnen eine Basis für die Gemeinschaft zu suchen, welche trotz dieser Widersprüche überleben muss. Rousseau will vermeiden, dass die moderne Philosophie das Band der Gemeinschaft schädigt und sich somit das „organische Ganze“ des politischen Lebens auflöst. Deshalb verteidigte er vehement die Tradition, den Patriotismus, die nationalistische Erziehung und auch die Notwendigkeit des (religiösen) Dogmas. Rousseau führt an, dass letztgenannte notwendige Mittel gegen den amour propre seien, der mit der Moderne entstünde.
Der Magier des Nordens oder die "Poesie" des Irrationalismus
Obschon er einen enormen Einfluss auf bedeutende deutsche Denker wie Goethe, Herder, Hegel, Schleiermacher, etc. ausübte, ist die Philosophie Hamanns bis jetzt weniger studiert worden als diejenige der eben genannten Autoren. Dennoch könnte man sagen, dass Hamann, oder der Magier des Nordens, der wahrhaftige Vater des Irrationalismus, Vitalismus und Pietismus ist, ebenso wie Verfasser des "heftigsten Angriffes auf die Aufklärung." (2001: 46). Unzufrieden mit der Aufklärung und verfeindet mit Kant, behauptete Hamann, das richtige Verständnis komme durch "Offenbarung", Introspektion" und durch "das Leben", und weniger durch die "Vernunft".
Großen Einfluss auf Hamann hatte Hume, dessen Philosophie in Deutschland eine beachtliche Rezeption erfuhr. Hamann studierte Hume genau, obwohl letzterer -wie die Mehrheit der philosophes- Deist war und dem christlichen Glauben skeptisch gegenüberstand. Durch die Lektüre Humes schlussfolgert Hamann, dass alle Abstraktionen, da sie über die Sinneswahrnehmungen hinausgehen, arbiträr sind und dass die Menschen die von ihnen erfahrene Welt willkürlich einordnen. Hume zeigte ihm, dass die Kenntnis schlussendlich im "Glauben" ruht, und dass von dieser die Existenz alles Seienden abhängt: von den Bäumen bis zu Gott. Hamann zufolge besteht die große Lehre Humes darin, dass das Existierende nicht durch die Vernunft bewiesen werden kann: es wird schlichtweg geglaubt, intuiert und gefühlt und kann nicht auf eine Gesamtheit logischer Propositionen reduziert werden.
Hamann nimmt den Vitalismus vorweg und erklärt, das Bedeutende sei, die Realität "so wie sie ist" zu erfahren und zu vermeiden, sich in der Konstruktion jener "großen rationalen Systeme" zu verlieren (ein Bezug auf Helvetius und Holbach), welche das „Leben des Geistes“ gefangen hielten. Der größte Fehler der rationalistischen Philosophen, so versichert Hamann, sei es, die Wörter mit Konzepten zu verwechseln, und diese wiederum mit Wesen der Realität. Wörter wie "Ursache", "Vernunft" und "Zweck" korrespondierten nicht mit einem "authentischen Wesen", mit einer "objektiven Wirklichkeit" der Dinge.
Es ist allerdings das Konzept des "Universalismus", welches Hamann für schädlicher hält, so wie es ein Wunsch nach "Inaktivität" ist, wie ein absichtsvoller "Trug" der Logik, welche die "Varietät" der Realität negiert. Für Hamann sind die von der Vernunft produzierten Konzepte in den meisten Fällen leere Abstraktionen, die nicht die Fülle der Wirklichkeit einzufangen vermögen, welche sich nur in der vor-rationalen Erfahrung zeigt. Berlins Ansicht zufolge war Hamann sowohl ein wahrer Reaktionär als auch einer der ersten romantischen Revolutionäre, da er die Existenz einer objektiven - sowohl faktischen als auch normativen - Ordnung negierte, aus welcher alle Kenntnis und alle Werte entstünden (Berlin, 2006: 254). Laut Berlin besteht Hamanns Hauptlehre darin, dass die Sprache der Natur - und hierin widerspricht er Kant - sich nicht in Mathematik ausdrücke, denn "Gott ist kein Mathematiker, sondern ein Dichter". Auf diese Weise stellt sich Hamann, in einer Mischung religiöser Sehnsucht und Archaismus, gegen die sogenannte "Newtonisierung" der Welt. Für Hamann ist es Blasphemie, die Spontaneität Gottes und seine Poesie in eine Gesamtheit von logischen Propositionen, Abstraktionen und Berechnungen einzusperren.
Was seine politische Vision betrifft, so ist diese eine Reaktion gegen den berühmtesten Aufsatz Kants: Was ist Aufklärung? Hierin legt der Königsberger Philosoph dar, aufgeklärt zu sein, bedeute, Verantwortung zu übernehmen und selbst Entscheidungen zu treffen, obwohl der Gehorsam einer legitimen Autorität gegenüber notwendig sei. Hamann spricht sich nicht hiergegen aus, reagiert jedoch gegen das Konzept der Freiheit, welches die Aufklärung mit sich bringt und welches, ihm zufolge, die "autoritäre Herrschaft" der "Philosophes" ermöglicht habe. Tatsächlich wird die Aufklärung in Preußen durch die Figur des aufgeklärten Monarchen Friederichs des Großen repräsentiert. Unter Einfluss Voltaires, seines persönlichen Mentors und zahlreicher anderer Philosophen (unter ihnen zentrale Figuren wie Helvétius, Laplace, La Mettrie, Maupertius, usw.), die an seinem Hofleben teilnehmen und/ oder die er an Schlüsselinstitutionen des Reiches (wie der kurz zuvor geschaffenen Königlich Preußischen Sozietät der Wissenschaften) einsetzt, initiiert Friedrich eine Serie von modernisierenden Reformen, darunter diejenigen zur Verbreitung der Wissenschaft, die Reform der Bildung und Bürokratie, die Reduzierung der religiösen Privilegien sowie die Einführung religiöser Toleranz.
In diesem Kontext des Vormarsches der aufgeklärten Vernunft argumentiert Hamann - der sich als Theologe bedroht fühlte und meinte, Preußen verlöre seinen protestantischen Charakter zugunsten des "aristokratischen, atheistischen, französischen" Rationalismus, welcher sein Vaterland, seine Kultur und Sprache kolonisierte (bekanntlich war das Französische die offizielle Sprache Friedrichs und seines Hofes) - dass die Aufklärung hinter ihrem scheinbaren "Humanismus" verborgen den "Menschen wie eine Maschine" behandele (dieses in Bezug auf den Essay La Mettries L’homme Machine.) Wie es in England Blake und Keats der Aufklärung vorwerfen, ist diese auch für Hamann nur damit beschäftigt, zu "berechnen", zu "zerlegen" und die Menschen ihrer Persönlichkeit zu berauben, wodurch sie zu einem autoritären Programm werde. Für Hamann betont die aufgeklärte Wissenschaft auf übertriebene und gefährliche Weise das Allgemeine, das Abstrakte, Universelle und Unpersönliche, und tendiert auf diese Weise dazu, die Unterschiede und Besonderheiten zu missachten.
Hamann erschien die Welt der Reformer, die Welt Friedrichs und seines Gefolges von Philosophen, welche den preußischen Staat in einen zentralistischen und bürokratischen Staat verwandelt hatten, als eine Missachtung aller christlicher Werte, welche er schätzte, und dies umso mehr, da die Reformer behaupteten, ein "universelles", "kosmopolitisches" Programm zu haben: dies war für Hamann schlichtweg maskierte Tyrannei oder Imperialismus (der Franzosen). Er machte eine Ausnahme mit Rousseau, "obwohl er Franzose" war, dessen Julie ou la Nouvelle Heloise er lobte und gegen den Rationalisten Mendelsohn verteidigte. Obschon er diese These in seinen Texten nie entwickelt, weist Berlin darauf hin, dass Hamann der erste antiliberale Demokrat sei, in dessen Denken sich eine gefährliche Mischung von Populismus und Obskurantismus verflechte. An seinen Mystizismus gebunden - von dem später Kierkegaard inspiriert wurde - begann Hamann mit einer Art reaktionärer Demokratie, welche aufgrund seines enormen Einflusses seit den Napoleonischen Kriegen von den deutschen Nationalisten weitergeführt wurde und ihren äußersten Ausdruck im Nationalsozialismus fand.
6. Abschluss
Die Vorwürfe Rousseaus und Hamanns gegen die Aufklärung sind grundlegend für die Kritik an dieser Epoche und ihr Einfluss ist deutlich erkennbar in der Schaffung jenes "intellektuellen Klimas" voller "romantischer Vorurteile" gegen das Jahrhundert der Aufklärung, auf das sich Cassirer bezieht, und das auf gefährliche Weise in Deutschland besondere Stärke gewinnt.
Der Gegensatz zwischen Kultur und Zivilisation trägt klare Spuren von Rousseaus antiaufklärerischer Verteidigung der Irrationalität als Grundlage der Gesellschaft. Wenn auf der anderen Seite Adorno, Horkheimer, Heidegger und Lévinas die "Rationalität" mit "Industrie, Diktatur, Berechnung" gleichsetzen und die "Wissenschaft" mit "Unterdrückung" und "universalisierender Abstraktion", und wenn auf gleiche Weise Weber die Modernität als einen Prozess der "Entzauberung" und "Bürokratisierung" der Welt bezeichnet - dann ist dies im Grunde eine Neuauflage der Reaktion Hamanns auf die säkularisierenden Staatsreformen Friedrich des Großen. Wenn Nietzsche, Croce und Spengler von der "Rationalität" als "Dekadenz und Nihilismus" sprechen (heute Gray), dann hallt in ihnen gleichermaßen Rousseau und seine Opposition gegen den Materialismus der Wissenschaft nach, welche er als "korrumpierend" empfand. Ähnliches geschieht, wenn Klages behauptet, das "Objektive" begrenze die schöpferische Fähigkeit der "Seele": hier handelt es sich um ein Echo auf Hamanns Anschuldigung, die Rationalität sei zerstörerisch, und auf Rousseaus Exaltierung des Gefühls. Wenn Schiller, Sorel, Bataille, Himmler, usw. ihrerseits die "revitalisierende" Funktion der Mythen hervorheben, reformulieren sie damit die Verteidigung der Religion von Rousseau und den Mystizismus Hamanns. Und wiederum Gleiches geschieht bei Kierkegaard und Heidegger, wenn sie die prä-rationale Dimension des Menschen, eine "authentische Existenz" und die Innerlichkeit verteidigen gegen die Säkularisierung und "Entifizierung", welche die moderne Rationalität mit sich bringe. Und schließlich entstehen die Exaltierung des "Anderen" von Lévinas, der Tradition von Gadamer, aus den konservativen Anstrengungen Herders und Hamanns, um die protestantische Verfassung des preußischen Königreichs zu verteidigen.
Wie wir gesehen haben, entwickelt sich das Denken von Adorno und Horkheimer und Heidegger, aber auch von Arendt und Lévinas, im Rahmen dieser Feindseligkeit gegenüber der Aufklärung. Es ist dasselbe mit Berlin, dessen Verteidigung des "Pluralismus" von Hamann und Herder aus dem Kult stammt, der in Deutschland um diese beiden Autoren aufgebaut wurde, und der eine klare Neigung zu Nationalismus und Proto-Faschismus aufweist. Auf diese Weise exportieren die Autoren diesen "anti-modernen deutschen Reflex", welcher eine wahrhaftige Karikatur der Aufklärung verursachte, bis hin zu einem großen Teil der Postmoderne, auf welche sie solch großen Einfluss ausübten (wie z.B. Foucault. Derrida, Lyotard, Deleuze, etc.). Trotzdem, und obgleich Berlin diese Hypothese nicht entwickelte, hatte er - wie zuvor Cassirer und Lukacs - schon davor gewarnt, dass diese Philosophie des "Partikularismus", "Relativismus" und "Irrationalismus", welche damals im Schwange war und es heute wieder ist - katastrophale Auswirkungen in Deutschland, Italien, Spanien, etc. hatte, indem sie (religiöse, nationale, kulturelle und ethnische) Essentialismen entstehen ließ und schlussendlich den Wert der Intersubjektivität und der rationalen Kritik negierte: ausgerechnet mit deren Hilfe aber hatte die Aufklärung versucht, Jahrhundeten - oder Jahrtausenden? - von Ignoranz, Despotismus und Intoleranz ein Ende zu setzen.
1.- Die wichtigsten sind: Darrin M. McMahon mit Enemies of the Enlightenment: The French Counter-Enlightenment (2002), Zeev Sternhell mit seinem Anti-Lumières (2010) und Graeme Garrard mit seinem Counter-Enlightenments (2003).
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