Die ewige Wiederkehr des Gleichen : Hamann und Heideggers Philosophie des Seins
von Jonathan Arriola
Dass die Aufklärung sich über sich selbst,
auch über das von ihr angerichtete Unheil, aufklärt,
gehört zu ihrer eigenen Natur.
Nur wenn man das verdrängt,
kann sich die Gegenaufklärung als
Aufklärung über Aufklärung empfehlen.
Jürgen Habermas
Hamann: ein Heideggerianer avant la lettre
Am Anfang ihres Essays Was ist Existenzphilosophie? (1948) sagt Hannah Arendt, dass Heidegger der letzte deutsche Romantik sei, da es viele Ähnlichkeiten zwischen seiner Philosophie und jener der Romantischen Bewegung gebe, und vergleicht ihn mit Figuren wie Friedrich Schlegel und Adam Müller. Seinerseits wies Cassirer in einer unveröffentlichten Kritik zu Heidegger darauf hin, dass dieser in der Tat zu einer religiösen Tradition des Denkens gehörte, in der sich Luther und Kierkegaard befinden (Köris 1983, 153). Arendt und Cassirer haben sicherlich recht, wenn sie feststellen, dass Heideggers Philosophie im Einklang mit der Tradition der Romantik und dem religiösen Irrationalismus dieser Autoren steht. Aber meiner Meinung nach fehlt dieser Tradition ein wesentliches Bindeglied, das Arendt und Cassirer übersehen: der evangelische Theologe und Philosoph Georg Hamann (1730-1788), der einen großen Einfluss auf Kierkegaard haben würde (tatsächlich nannte Kierkegaard ihn „Mein Kaiser!“) ist der wahre Vater des deutschen Existenzialismus.
Wie wir sehen werden, weiht der evangelische Theologe Hamann in seiner starken Reaktion auf die rationalistische Philosophie der Aufklärung (vor allem der französischen, die sich schnell in dem Preußen der Arbeitsreformen Friedrichs des Großen ausbreitet), den deutschen Irrationalismus in seiner modernen Form ein und legt den Grundstein für das, was dann in den Mystizismus, Vitalismus, den „linguistic turn“ und Existentialismus des zwanzigsten Jahrhunderts umgewandelt wird. Wie Isaiah Berlin, der in den 60er Jahren schrieb, richtig erkannte, steht das Denken Heideggers, wie auch des Existentialismus insgesamt, im Erbe des deutschen Theologen Hamann. So zitiert Heidegger aus der Korrespondenz von Hamann und erteilt einen Kurs über Herder - mit welchem Hamann eine enge Beziehung hatte. Außerdem publiziert Rudolf Unter im Jahr 1911 den Text: Hamann und die Aufklärung, einen wichtigen Text für eine Generation von Philosophen in Deutschland und darüber hinaus. Tatsächlich basiert die Vision Isaiah Berlins von Hamann, auf welche wir hier zurückgreifen und wie dieser selbst zugibt, auf diesem Text von Unger. Seinerseits, ist es sehr wahrscheinlich, dass Heidegger Zugriff hatte auf Hamann und die Aufklärung. Tatsächlich erklärt Heidegger seine Bewunderung für das Werk von Rudolf Unger. Von dorther könnten sich die engen Parallelen erklären, die es zwischen seiner und Hamanns Philosophie gibt, ebenso wie diejenigen Ähnlichkeiten mit dem von Berlin beschriebenen Hamann. Wie John R. Betz richtig in After Enlightenment: Hamann as Post-Secular Visionary (2009) zeigt, gibt es auffallende Ähnlichkeiten zwischen Hamann und Heidegger: die existentielle Wendung in der Kritik der modernen Philosophie, die Kritik der instrumentellen Vernunft und des „abstrakten“ Gottes der Metaphysik, sowie auch die Reflexionen über die Sprache, die Zeitlichkeit und die Art der Dichtung als Offenbarung, sind Elemente der Philosophie Hamanns, die Heidegger in seine Schriften aufnehmen wird, wie wir unten diskutieren werden (Betz 2009, 326).
Das est; ergo cogito gegen „die reine Vernunft“
Ebenso wie Heidegger eineinhalb Jahrhunderte später, betonte Hamann - und vor ihm Jakob Böhme- in seiner Philosophie die Existenz einer sowohl subjektiven als auch objektiven, prä-rationalen Realität, welche grundlegender ist als jene von der modernen Wissenschaft beschriebene: die (karteseanische) Rationalität und Selbstreflexion. In diesem Sinne ist Hamann, der stark durch den radikalen Skeptizismus von Hume und den schottischen Empirismus im allgemeinen inspiriert wurde, einer der ersten, der argumentiert, dass die Existenz der Rationalität vorangeht, da sie reine und unvermittelte Erfahrung ist; und daraus folgert Hamann, im Widerspruch zur Philosophie der Aufklärung seit Descartes, dass erstere nicht von der zweiten nachgewiesen werden kann (Berlin 2000, 353). An diesem Punkt sucht Hamann die Aufklärung zu zerstören, indem er sie mit ihren eigenen erkenntnistheoretischen Waffen bekämpft: das heißt, durch eine Radikalisierung des Empirismus, der nach der Newtonschen Revolution in Mode war. So kehrt Hamann alle aufgeklärten Paradigmen um: die Vernunft entstammt dem Glauben, und nicht der Glaube der Vernunft, wie die Deisten sagen.
In der Tat erklärt Hamann in Philologische Einfälle und Zweifel (1772), gegen Kant und dessen Versuche, die Religion zu rationalisieren, dass die Grundlage der Religion in unserer Existenz liegt, die außerhalb unserer Erkenntniskräfte sind und die das Leben zu einer abstrakten Art der Existenz machen (Betz 2009, 326). Für Hamann sollten das „Gefühl“, der „Glaube“ und die „Existenz“ eben diese epistemologischen Grundlagen der Philosophie sein: Elemente, die jenseits der Rationalität liegen und die dennoch Voraussetzung alles Denkens sind- im Fall von Heidegger wird diese Vorrangstellung von der Stimmung eingenommen.
Es ist klar, dass Hamanns und Heideggers Feind Descartes heißt. In einem Brief an Jacobi riet Hamann diesem, „nicht das noble „sum“ für das „cogito“ zu vergessen“. Das explizite Ziel dieser Ansicht Hamanns ist es, die Grundlage der modernen Philosophie, die mit Descartes beginnt und dem denkenden Subjekt das Primat gibt, umzukehren: est, ergo cogito, ist Hamanns Motto, das direkt Bezug nimmt auf die Offenbarung Gottes „Ich bin“ von Exodus 3: 14 (Betz 2009, 326). Wenn Heidegger -sowohl vor als auch nach der sogenannten Kehre-, seine Artillerie gegen die kartesische Philosophie und insbesondere gegen ihre Theorie der Subjektivität und ihre Beschreibung des „Seins“ als „essentia“ richtet, erinnert er an Hamann und seine Schmähungen des französischen Rationalisten wegen dessen Förderung der täuschenden a priori Wahrheiten und des „cogito“ als Ausgangspunkt der Philosophie. Heidegger schreibt etwas sehr Ähnliches in seiner Einleitung zu Sein und Zeit und auch in Kapitel Eins, wie Luanne bemerkt (2013, 6). Andererseits attackierte Hamann –genau wie Heidegger es ein Jahrhundert später mit dem Neukantianismus machen würde- heftig die Idee von der Existenz einer „abstrakten“, „objektiven“ und „universellen“ Sphäre, die mithilfe der „reinen Vernunft“ zugänglich sei (Kant), da dies seiner Ansicht nach nur ein „Trug der Logik“, eine „leere Verfälschung“ der Realität wäre, die im Widerspruch zum (religiösen) „Leben“ steht - und wiederum bei Heidegger in Kierkegaards Sprache zur „authentischen Existenz“ des Daseins.
In ähnlicher Weise ist der Gott der Metaphysik und der natürlichen Theologie, welcher Kategorien wie causa sui unterworfen ist, eine „leere“ und „kalte“ Abstraktion, ein bloßes ens entium, das dem wahren Gott der Bibel in nichts ähnelt. Hier nimmt Hamann Pascals Unterscheidung zwischen dem (kalten) „Gott der Philosophen“ und dem (lebendigen) „Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs“ wieder auf. Während der Gott Spinozas ein „vernünftiges Wesen“ ist, ist der Gott Hamanns ein persönlicher, kreativer, leidenschaftlicher Gott, und somit kann die Natur als seine Schöpfung - wie das „Sein“ bei Heidegger -, niemals in die „Grenzen der bloßen Vernunft passen“ (Kant). Gott wurde durch die Philosophie verwandelt, kritisiert Hamann, in eine „reine Idee der Vernunft“ und so verschloss sie sich der Möglichkeit der Selbstoffenbarung Gottes als „Sein“.Laut Hamann hat die Philosophie die Sünde begangen, die Wirklichkeit von der Vernunft her zu untersuchen und nicht von Gott oder - in Heideggers Denken - vom Sein her.
So warnt Hamann, die sogenannte „kritische Wende“ in Kants Philosophie, welche „eine universale Wissenschaft des Möglichen" schaffen wolle, werde zu einer "universalen Ignoranz des Realen" führen (Betz 2009, 327). Wie Betz sagt, nimmt hiermit Hamann die Kritik an der Metaphysik und der „traszendentalen Philosophie“ (von Descartes, Kant, Husserl, der Neokantianer, etc.) vorweg, welche Heidegger zum Mittelpunkt seiner Gedanken machte. In der Tat wirft Heidegger ebenso wie Hamann, jedoch in einer säkularen Sprache, der abendländischen Philosophie vor, dass die Ontologie an eine Transzendentalphilosophie angeglichen wurde, wo das Problem des „Seins als Sein nicht richtig angesprochen wird oder einfach als ein logisches Substrat behandelt“ wird. Mit seiner „totalen Kritik“ an der „abendländischen metaphysischen Tradition“ und spezifisch an dem Platz, welchen das Logos in ihr innehat, führt Heidegger Hamanns Revolte sowohl gegen die griechische und katholische (scholastiche) als auch und vor allem gegen die moderne Metaphysik zum Höhepunkt (Berlin, 2000, 363).
Wie Frank Luanne in „Hamann, Herder, and Heidegger’s Hermeneutics of Being“ (2013) zeigt, nimmt Heidegger diese Kritik Hamanns an der modernen Philosophie, besonders an Descartes und Kant, in Sein und Zeit (1929) in ähnlichen Ausdrücken wieder auf. Er stellt fest, dass Descartes dem „cogito“ über dem „sum“ Priorität einräumte, ohne sich weiter zu fragen, welcher Art von Sein das res cogitans und das „sum“ eigentlich seien, und dass Kant ihm (Descartes) „dogmatisch“ folgte. Für Hamann, wie für Blake in England, sind alle „rationalen Systeme“ (wie die von Newton oder von den französischen Philosphen, Buffon und Kant errichteten) schlechthin launische Chimären: tatsächlich sind die Menschen diejenigen, die willkürlich entscheiden, wie die (metaphysische) Welt der Erfahrung zu ordnen ist, und wie man die Fakten, die der Erfahrung geliefert werden, interpretieren soll. Bei Heidegger erhält diese Idee die phänomenologische Form der Entschlossenheit, die eine Festlegung eines Sinnes (oder einer „Wahrheit“, verstanden als „aletheia“ und nicht als „Korrespondenz“) inmitten der ursprünglichen Unsicherheit (des Nichts) des Seins impliziert.
So wie Heidegger das Problem des kantischen Dualismus zwischen „Noumenon“ und „Phänomen“ in das Konzept der „Zeitlichkeit“ aufzulösen versucht, welches das eine dem anderen subsumiert -eine Idee, die Cassirer in Davos ausdrücklich kritisiert-, hatte Hamann bereits erläutert, dass die metaphysische Trennung zwischen „Erscheinung“ und „Realität“, „Theorie“ und „Praxis“, „Körper“ und „Seele“, eine Verleugnung der grundlegenden „Einheit“ der Erfahrung (und der „Aktion“) darstellt und somit einen ungültigen Rekurs auf eine Art von „metaphysischer Mythologie“, wie er in seiner Metakritik Purismus der Vernunft (1788) darlegte (Berlin, 2000, 363). In diesem Sinne nimmt Hamann nicht nur Nietzsche und dessen Kritik am abendländischen metaphysischen Dualismus vorweg, sondern auch Horkheimer und Adorno, wenn er der Aufklärung vorwirft, sich wieder der Mythologie zugewandt zu haben. Zur gleichen Zeit ist Hamann der Erste, der gegen die Aufklärung den Vorwurf des Nihilismus richtet, welchen Nietzsche gegen die Moderne und ironischerweise gegen das Christentum selbst reformuliert, das Hamann so vehement verteidigte. Hamann wirft der griechischen -während des Zeitalters der Aufklärung so geschätzten -Philosophie vor, Gott „nicht kennengelernt“ zu haben, wie später Heidegger sowohl der griechischen als auch der modernen abendländischen Metaphysik vorwirft, das Sein „vergessen zu haben“.
Sprache und Offenbarung oder Unverborgenheit des Seins
Kern des Projektes von Hamann und Heidegger, jenseits ihrer Kritik des Rationalismus, ist es, eine Art von „Offenbarung“ wiederzuentdecken, die genau in der Sprache zu finden ist, welche ein „wunderbares Geschenk“ Gottes an die Menschen ist, und welche durch die Metaphysik mit ihren Konzepten und abstrakten Kategorien verfälscht wurde. Während Heidegger sich von der christlichen Sprache Hamanns befreien wird, behält der Autor jedoch den Begriff der Offenbarung, die der Erbe des Theologen ist, aber umformuliert sie unter neuen Ausdrucken wie Lichtung und Unverborgenheit. In der Tat, erschließt sich unaufhörlich für den deutschen Theologen Gott zu den Menschen durch die Natur, die Geschichte, die großen Menschen (oder Propheten) und Ereignisse, die Heiligen Schriften. Heidegger übersetzt diese religiöse Ansicht Hamanns in das säkulare Konzept der Sprache als Ort der „Unverborgenheit des Seins“, was wiederum eine Neuformulierung der Metaphysik (odermetaphysischen) Kategorien impliziert, wie zum Beispiel jener „Wahrheit“, welche als „un-verborgen“ (das Sein), beschrieben wird und auch des Dasein selbst, wie in einem Verhältnis von „Entsprechung zur Aufforderung des Seins.“
Das Instrument der Offenbarung Gottes in der Welt ist laut Hamann eben die Sprache, wo die Vernunft ihre sinnvolle Existenz nimmt. Deshalb glaubt der Theologe, wie später Lévinas, dass die Vernunft nicht anderes als die Sprache ist, eine Idee, die gegen Kants „reine Vernunft“ mit ihren abstrakten und universellen Kategorien gerichtet war. Hamann legt diese Idee in einem Brief an Herder im Jahr 1784 dar, und wie bei Frank zu sehen, zitiert Heidegger eben diesen Brief in seinem Essay „Sprache“ (1971), was Hamanns direkten Einfluss auf seine Philosophie beweist (Frank 2013, 5). Zudem hat bei beiden, wie Betz anführt, die Offenbarung eine kenosische Struktur. In der Christologie bezieht sich die Kenosis auf das sogenannte „Leerwerden“, die „Entäußerung“ des eigenen Willens, um sich für den Willen Gottes empfänglich zu machen. Hamann benutzt dieses Konzept im Lauf seiner Schriften, und eben dies tut auch Heidegger, in nicht explizit christlicher Sprache; nicht nur ist das „Sein das Nichts“, sondern zudem entäußert sich dieses Sein, wie Gott in der kenosischen Christologie, und nihiliert sich. (Betz 2009, 329) Und wenn für Heidegger die Sprache das „Haus des Seins“ ist, so ist sie für Hamann in ähnlicher Weise die „Mutter der Vernunft und ihrer Offenbarungen, das Alpha und Omega.“ (Betz 2009, 329)
In der Tat ist der Aufruf des späten Heidegger, dass sich die Philosophie der Dichtung nähern müsse – um nicht die Vergessenheit des Seins zu erneuern, welche in der Wissenschaft und Philosophie stattfindet -, ein Echo der Warnung Hamanns, die er zornig über den Fortschritt der Wissenschaft gegen Kant richtet: „Gott ist kein Mathematiker, sondern ein Dichter.“ Für Heidegger ist die poetische Sprache das, was unser „Sein-in-der-Welt“ offenbaren kann und unser Leben und Wohnen in der Welt auf eine Weise gründen kann, wie es die unermüdlich und vergeblich nach Grundlagen suchende Vernunft nicht tun kann. Für Hamann ist der Anspruch der Poesie vor allem verbunden mit dem Wert der Heiligen Schrift als einer Wahrheit, die sich der rationalen Untersuchung entzieht, welche ihr von den Philosophen aufgezwungen worden war. Heidegger behält und erhöht diese essentielle Funktion der Poesie noch, wie er es in „Was heißt Denken“ tut, wo er tatsächlich das Denken mit dem Dichten gleichstellt. Diese Rückforderung der Poesie beeinträchtigt die Rationalität oder „das rechnende Denken“, welches als niedrigste Form des Denkens präsentiert wird. Den Höhepunkt dieser anti-rationalistischen Philosophie finden wir in Heideggers „Holzwege“ (1950), wo er behauptet: „Das Denken beginnt erst dann, wenn wir erfahren haben dass die seit Jahrhunderten verherrlichte Vernunft die hartnäckigste Widersacherin des Denkens ist.“
Auf dem Weg zu politischer Philosophie:
Hamann gegenüber Mendelssohn, Heidegger gegenüber Cassirer
Die Philosophie Hamanns richtet sich nicht nur gegen Kant - insbesondere gegen dessen Kritik der reinen Vernunft (1781)- und gegen die französische materialistische Philosophie - welche Friedrich der Große zu seiner rechten Hand im aufgeklärten Preußen gemacht hatte -, sondern auch gegen den aufgeklärten Philosophen Moses Mendelssohn. Die philosophische und politische Auseinandersetzung zwischen Mendelssohn und Hamann zeigt interessanterweise erstaunliche Parallelen zu dem berühmten Davoser Disput zwischen Cassirer uud Heidegger im Jahr 1929. Schon in den Biographien finden sich dieselben Parallelen bzw. Gegensätze. Mendelssohn war, wie nach ihm Cassirer, ein liberaler Jude, der im weltoffenen Berlin lebte, mit einem ruhigen und versöhnlichen Temperament und damals einer der wichtigsten Philosophen Deutschlands. Hamanns Lebenslauf ist genau gegensätzlich: ebenso wie Heideggers in Bezug auf Cassirer: er kam aus niedriger sozialer Schicht, hatte eine stark religiöse protestantische Erziehung und ein leidenschaftliches Temperament. Hamann war mit Mendelssohn befreundet, wie auch zuvor mit Kant; verfeindete sich jedoch später mit beiden Philosophen.
Das Problem bestand darin, dass Mendelssohn für Hamann all jene Ideale der Aufklärung verkörperte, gegen die seine Philosophie sich vehement richtete. Mendelssohn hatte -wie später Cassirer im Deutschland der 30er Jahr- den Naturrechtlern und insbesondere dem allgemein gehassten Spinoza folgend, die aufgeklärte Lehre von den „natürlichen Rechten“ vertreten, wonach der Staat auf einem Vertrag zwischen rationalen Individuen basiert, um Frieden, Ordnung und Glück zu halten. Der Staat soll, Mendelssohns Ansicht nach, die Freiheit der Meinungsäußerung, des Denkens und das Streben nach Glück seiner Bürger, dieser Ansatz ist in der Tat, die logische Folge des politischen Denkens der Aufklärung. Hamann zufolge ist all dies jedoch eine große Lüge, eine Erfindung der französischen proto-utilitaristischen Philosophen (insbesondere Helvétius und d‘Holbach). Die Idee der „natürlichen Rechte“ ist, Hamann zufolge, ein perfektes Beispiel für eine typische Chimäre des rationalen Intellekts, welcher „abstrakte Systemen“ baut und tief in der westlichen Tradition verwurzelt ist, in diesem Logos, das in der Tat keine konkrete Realität hat (Berlin, 2000 369). Wie wir bereits sahen, gibt es weder für Hamann noch für Heidegger eine objektive, universelle und öffentliche Struktur, welche durch ein „unveränderliches Naturgesetz“ geregelt ist.
So wie für Heidegger das Sein nicht eine substantia ist, so hat die Natur für Hamann kein „ewiges Wesen“, wie die Raissoneurs behaupten. Der Grund dafür ist laut Hamann die Tatsache, dass die Natur dem freien und wechselnden Willen Gottes und seinen Wundern unterworfen ist. Für den Theologen findet man die politische Autorität nicht in der „Vernunft“, sondern in der Absurdität oder sogar in der Dummheit. Die Vernunft sollte laut Hamann negiert werden, weil für ihn „Der Gehorsam der Vernunft gegenüber [... ] ein Aufruf zur Eröffnung des Aufstands“, ist. Genau wie Giambattista Vico, Kultautor der italienischen Faschisten, und Joseph de Maistre, Kultautor der französischen Faschisten, argumentierte bereits Hamann, dass die Vernunft die Bande der Unterordnung unter den Menschen zerstöre und so die Tür zur Vernichtung der Gesellschaft öffne. Hamann erweitert den Irrationalismus seiner Philosophie zu seiner politischen Vision: die Gesellschaft ist geboren aus den natürlichen und irrationalen Bedürfnissen des Menschen, welche Gott geschaffen hat und welche zutiefst geheimnisvoll sind. Versucht die Gesellschaft ein rationales Ziel zu finden, wie „Glück“, „Frieden“, „Fortschritt“, so ist dies ein Unsinn.
Für Hamann ist Berlin genau das neue Babylon, die Stadt, wo man versuchte, den Turm von Babel zu bauen, welcher der Stolz der Menschheit sein sollte, aber zu ihrem Verderb wurde. Der Rationalismus, der Atheismus, der Liberalismus, der Säkularismus etc, der „Weisen“ von Berlin repräsentieren für den Theologen die Neuauflage dieser Todsünde. Zu diesem Zeitpunkt bedeutete die Toleranz gegenüber dem Judentum als organisierter Religion, so wie sie Mendelssohn in Jerusalem oder über religiöse Macht und Judenthum (1783) verteidigt, welcher die Bürgerschaft in der rationalistischen und artifiziellen Idee der “Naturrechte” gründet und nicht in der (christlichen) Religion, für Hamann, dass man den Liberalismus und Rationalismus, welche den christlichen Gott negieren, wie es der Pantheismus Spinozas tut, akzeptiert. Hiergegen stellt sich Hamann vehement – tatsächlich klagt er Mendelssohn an, er habe den wahren (irrationalen) Judaismus verraten, indem er sich dem Rationalismus hingab. So werden Judaismus, Rationalismus, Industrialisierung (oder Modernisierung) Kosmopolitanismus (oder Universalismus) oder ausländischer Einfluss (bzw. Einmischung), vor allem französischer Art, und Despotismus (wegen der Teilnahme dieser philosophes im preußischen Staat) von Hamann als Synonyme empfunden. Dem Autor zufolge, sollte sich Deutschland am Rande der (aufgeklärten) Ideen des Westens sowie der Juden halten.
Die frühzeitige Zurückweisung Heideggers gegen die Weimarer Republik, den Liberalismus und die Demokratie, welche er als “despotisch” bezeichnet (Hamann klagt Friederich mit den selben Begriffen an), und noch mehr, sogar sein kürzlich bewiesener Antisemitismus, weisen erstaunliche Ähnlicheiten auf mit der Rückweisung des aufklärten Rationalismus, den Hamann eineinhalb Jahrhunderte zuvor eingeführt hatte. Tatsächlich versichert Heidegger, dass die Juden nicht nur die Nutznießer des „leeren Rationalismus“ und der „liberalen Ideologie“ des Westens gewesen seien, sondern diesen aktiv vorangetrieben hätten (hier in Bezug auf, wie wir sahen, die Rolle der Juden in der deutschen Aufklärung). Seinerseits macht er sie verantwortlich dafür, eine Philosophie aufdrängen zu wollen, der zufolge das “sein” geringer sei als das “sich ändernde Sein”, ein Vorwurf, den, wie wir gesehen haben, Hamann gegenüber dem Rationalismus erhebt und gegen seine Vision der Natur als essentia (mi Gegensatz zu seiner eigenen Vision der Natur als Geschichte, in welcher Gott interveniert.)
Auf gleiche Weise spricht Heidegger von den Juden als Repräsentanten der „rechnerischen Fähigkeit“, als Motor jeder Modernität und der westlichen Metaphysik, die sich in England, Frankreich, den USA und der UdSSR verwirklicht habe. Und auf gleiche Weise charakterisiert er sie als Teil einer „Weltverschwörung“ in geheimer Absprache mit den Verbündeten gegen Deutschland, was, wie wir gesehen haben, bei Hamann ursprünglich zu tun hatte mit der Teilhabe der Juden an der Aufklärung und den Franzosen im reformierten Preuße Friedrichs des Großen. Nach dem Vertrag von Versailles radikalisiert sich diese Vision des westlichen oder jüdischen Rationalismus noch, wie wir in Heidegger sehen, indem unglaublicherweise die Gedanken Hamanns neu aufgelegt werden. Bruno Bauch klagt 1916 Herman Cohen an, er könne Kant, einen deutschen Philosophen, nicht richtig interpretieren, weil er Jude sei. Gleiches tut Othmar Spann, welcher in einer Konferenz, an der Hitler selbst teilnahm, die rationalistische (anti-deutsche) Interpretation Kants durch die „jüdischen Neukantianer“ (Cohen und Cassirer) beklagte (Coskun 2006, 6-7). Dieselben Kommentare gibt es über die Davoser Diskussion von Cassirer und Heidegger über das Erbe Kants: für Cassirer war Kant der Höhepunkt der Aufklärung, für Heidegger – unter Einfluss von Hamann und Kierkegaard – war er der “Vater des Irrationalismus” und “Zerstörer der westlichen Tradition”.
Auf der anderen Seite ist für Hamann der selbsternannte „Humanismus“ der Philosophes, welche „Sans Souci“ neben dem „preußischen Salomon“- Friedrich dem Großen - und seinen „aritmetischen Politikern“leben, unmenschlich, heuchlerisch und autoritär: es verursache das Leiden der „echten“ Menschen (Jean-Marie 1995, 93). Georg Hamann ist unzweifelhaft ein früher Vater des Anti-Humanismus, welchen Heidegger in seinem berühmten „Brief über den Humanismus“ (1947) gegen Jean Paul Sartre bekennen wird und in seinem Gefolge auch die französische Postmoderne.
Auch Heideggers Philosophie teilt mit Hamanns den Anti-Objektivismus und Anti-Universalismus. Tatsächlich fragt in der Davoser Disputation Cassirer Heidegger, ob seine Philosphie auf die Möglichkeit der (wissenschaftlichen) Objektivität verzichtet und demzufolge alle Wahrheiten relativ zum Dasein sind. „Does Heidegger [fragt Cassirer] want to renounce this entire objectivity, this form of absoluteness that Kant has represented in the ethical [sphere], the theoretical [sphere] and in the Critique of Judgement?” (Friedman 2000, 139) Dagegen hält Heidegger weiter daran fest, dass das Dasein in Raum und Zeit begrenzt ist und betont die Unmöglichkeit des Menschen, seine Endlichkeit irgendwie zu überwinden. Das heißt, der Mensch ist dazu verdammt, in einer Welt ohne objektive Wahrheiten zu leben, welche als „Korrespondenz“ mit einer „objektiven Struktur“ des Seins verstanden werden. Was die „universelle“ Geltung der Wahrheit angeht, antwortet Heidegger: „the peculiar validity that is attributed to a [truth content] is badly interpreted if one says that over and above the flux of experience there is something stable, the eternal, the meaning [Sinn] […]” (Friedman 2000, 139-140)
Wie Luanne bemerkt, spekuliert Hamann in einem Brief prophetisch mit der Idee, dass seine einfache Inversion des kartesianischen cogito für sum die Philosophie eine neue Richtung und Sprache geben würde. Diese Richtung und Sprache war genau die Philosophie Heideggers, welche, wie es Isaiah Berlin (2000, 133) sieht, die Reaktion Hamanns gegen den Fortschritt der Aufklärung seiner Epoche vollzieht und die vielleicht in seiner Diskussion in Davos mit dem neo-aufgeklärten Cassirer ihre Höhepunkt fand, y que recuerda a la discusión entre Hamann y Mendelssohn, zwischen Naphta und Settembrini.
Schließlich müssen wir sagen, dass die Einwendungen gegen den Rationalismus welche die Gegenaufklärung Tradition erhoben, sollten überhaupt nicht ignoriert werden. Wie Habermas richtig sagt diese Tradition, in der die zweifellos Hamann und Heidegger eine wesentliche Bindeglied sind, könnte nich als eine radikale Verneinung der Aufklärung (obwohl so viele seiner Feinde präsentieren) betracht werden, sondern vielmehr eine als eine Aufklärung seiner Prinzipien, Schwächen, Grenzen und Stärken: das heißt, als eine Aufklärung der Aufklärung. So gesehen, eröffnet sich die Möglichkeit, die ursprüngliche Projekt der Aufklärung zu überdenken, welche die berechtigten Kritiken des Historismus, des Existentialismus, usw. gegen den Rationalismus, den Materialismus und die Wissenschaftlichkeit der Aufklärung wirklich berücksichtige. Auf diese Weise hätten wir, und es mit Hegel zu sagen, eine echte „Aufhebung“ der Aufklärung.
Literaturverzeichnis
ASCHHEIM, E. Steven. Hannah Arendt in Jerusalem. Ed. University of California Press. London. 2001.
BANKOWSKI, Zenon. Epistemology and Ontology. Franz Steiner Verlag. Stuttgart 2005.
BERLIN, I. Three Critics of the Enlightenment. New Jersey: Princeton University Press. 2000.
BETZ, R. John. After Enlightenment: The Post-Secular Vision of J. G. Hamann. Wiley-Blackwell. United Kingdom. 2009.
COSKUN, Deniz. Cassirer in Davos. An Intermezzo on Magic Mountain (1929). Im: Law and Critique (2006) 17: 1–26. Springer 200.
FRIEDMAN, Michael. A Parting of the Ways. Carnap, Cassirer, and Heidegger. United States of America. 2000.
KROIS, John Michael. Cassirer's Unpublished Critique of Heidegger. Im: Philosophy & Rhetoric, Vol. 16, No. 3 (1983), pp. 147-159.
LUANNE, Frank. Hamann, Herder and Heidegger´s Hermeneutics of Being. University of Texas. 2013.
PAUL, Jean-Marie. 1995. Des lumières contrastées: Cassirer, Horkheimer et Adorno. Im : Revue germanique internationale.
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